Wer den wahren Namen eines anderen weiß, der hat Macht über ihn. Diese Überlegung hat Ursula K. Le Guin schon in ihrem Roman „Earthsea“, erschienen in den 1970er Jahren, erkundet. In diesem fantastischen Epos dringt sie tief unter die Oberfläche des Alltäglichen und in die Bedeutungsebenen von Worten und Benennungen vor. So erkennt der Protagonist, ein junger Magier, schon bald: „For magic consists in this, the true naming of a thing.” Den „wahren Namen“ von jemandem zu wissen, bezieht sich auf etwas Essenzielles, das eigentliche Sein eines anderen Wesens, nicht auf einen banalen Vornamen.
Diese Idee einer machtvollen Verbindung, die durch das Benennen entsteht, greift Le Guin in „Sie entnennt sie“ wieder auf. Susanne Opfermann hat diesen Text in ihre inspirierende Sammlung „Begegnungen mit (anderen) Tieren“ aufgenommen, der in den Tierstudien des Berliner neofelis Verlags erschienen ist. Das Motiv der Machtausübung über das Benennen taucht hier wieder auf. Le Guin berichtet darin vom Machtmißbrauch der Menschen über die von ihnen benannten Tiere – eigentlich aber über die Auflösung dieses Machtverhältnisses. Indem Tiere von ihren Namen losgesagt werden, die aus einer Art Tunnelblick auf bestimmte Eigenschaften entstanden sind. Die unterschiedlichsten Tiere treten auf - Wale, Delfine, Yaks, Katzen, Insekten, Fische und Pferde - und allen werden die Namen genommen „Rinder, Schafe, Schweine, Esel, Maultiere und Ziegen, zusammen mit Hühnern, Gänsen und Truthähnen stimmten begeistert zu, ihre Namen den Leuten zurückzugeben, denen sie, wie sie es ausdrückten, gehörten.“
Was zuerst wie eine Art Entfremdung aussieht, kristallisiert sich als Akt der Befreiung heraus. Durch das Benennen und Definieren, das rein menschlichen Interessen gedient hat, wurden Tiere in den Bannkreis der Ausbeutung, der Unterwerfung und Objektifizierung gedrängt. Nun werden sie aus diesem Verhältnis erlöst. „Die meisten akzeptierten die Namenlosigkeit mit derselben vollkommenen Gleichgültigkeit, mit der sie ihre Namen so lange akzeptiert und ignoriert hatten.“ Die Ich-Erzählerin des Texts reflektiert ihre Gefühle, nachdem sie die Tiere entnannt hat – sie fühlt sich ihnen nun näher als während der Trennung durch menschengegebene Namen. Ungeschützter auch irgendwie.
Die Hierarchie ist unsicher, wankend geworden. „Sie schienen mir viel näher als zu der Zeit, als ihre Namen wie eine Trennwand zwischen uns gestanden hatten: so nah, dass meine Angst vor ihnen und ihre Angst vor mir zu ein- und derselben Angst wurden. Und die Anziehung, die viele von uns spürten, das Verlangen, die Gerüche des anderen zu riechen, die Schuppen oder Haut oder Federn oder Fell zu spüren oder zu reiben oder zu liebkosen, das Blut oder Fleisch des anderen zu kosten, einander zu wärmen – diese Anziehung war jetzt eins mit der Angst, und der Jäger war nicht mehr vom Gejagten zu unterscheiden, noch der Essende vom Essen.“ Ein hintergründiges Lächeln mag die kurze Szene begleiten, in der das Ich der Erzählerin sich von ihrem Mann Adam verabschiedet: „ ‚Also dann Widersehen, mein Lieber. Ich hoffe, der Schlüssel für den Garten taucht wieder auf. (…) Ich gehe jetzt. Mit den-‘, ich stockte und sagte schließlich: ,Mit ihnen, weißt du‘, und ging.“ Sie kann nicht mehr, so meint sie, „einfach losplappern wie sonst und alles als selbstverständlich annehmen.“ Das Ende des vermeintlich Selbstverständlichen ist das Ende einer Weltsicht. Hier öffnet sich der Raum für das Neue.
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Disenchantment of power
Whoever knows the true name of another has power over him. Ursula K. Le Guin already explored this consideration in her novel "Earthsea," published in the 1970s. In this fantastic epic, she penetrates deep beneath the surface of the everyday and into the levels of meaning of words and naming. Thus, the protagonist, a young magician, soon realizes, "For magic consists in this, the true naming of a thing." Knowing someone's "true name" refers to something essential, the very being of another being, not a banal given name.
Le Guin echoes this idea of a powerful connection that comes through naming in "She Unnamed Her." Susanne Opfermann has included this text in her inspiring collection "Encounters with (Other) Animals," published in "Tierstudien" by Berlin-based neofelis Verlag. The motif of exercising power through naming reappears here. In it, Le Guin reports on the abuse of power by humans over the animals they name - but actually on the dissolution of this power relationship. By ridding animals of their names, which have arisen from a kind of tunnel vision of certain characteristics. A wide variety of animals appear - whales, dolphins, yaks, cats, insects, fish, and horses - and all are stripped of their names "Cattle, sheep, pigs, donkeys, mules, and goats, along with chickens, geese, and turkeys enthusiastically agreed to give their names back to the people who, as they put it, owned them."
What at first seems like a kind of alienation crystallizes as an act of liberation. Through naming and defining that has served purely human interests, animals have been forced into the spell of exploitation, subjugation, and objectification. Now they are being redeemed from this relationship. "Most accepted namelessness with the same utter indifference with which they had accepted and ignored their names for so long." The first-person narrator of the text reflects on her feelings after unnaming the animals - she feels closer to them now than she did while separated by human-given names. More unprotected, too, in a way.
The hierarchy has become uncertain, shaky. "They seemed much closer to me than when their names had stood like a partition between us: so close that my fear of them and their fear of me became one and the same fear. And the attraction that many of us felt, the desire to smell each other's scents, to feel or rub or caress each other's scales or skin or feathers or fur, to taste each other's blood or flesh, to warm each other - that attraction was now one with fear, and the hunter was indistinguishable from the hunted, nor the eater from the eaten." An enigmatic smile may accompany the brief scene in which the narrator's I says goodbye to her husband Adam: " 'Well then, goodbye, dear. I hope the key to the garden turns up again. (...) I'm going now. With the-', I faltered and finally said: 'With them, you know', and left." She can no longer, she feels, "just babble away as usual and take everything for granted." The end of what is supposedly taken for granted is the end of a worldview. This is where the space for the new opens up.
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The quotes of Ursula K. Le Guin's text have been translated from the German version. The Original of Le Guins „She unnames them“ was first published in The New Yorker, January 21, 1985
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