Okapi liest, tief versunken in ein buntes leinengebundenes Buch. Zebra nähert sich neugierig. -Was gibt es Neues? Was liest du Schönes?
Okapi taucht mit einem ungeordneten Blinzeln aus dem Text auf, lässt das Buch sinken und klappt es langsam zu. Nicht ohne vorher das glänzende Lesebändchen einzulegen.
-Ich lese tatsächlich etwas Außergewöhnliches, und auch wirklich Schönes, nach entsetzlich düsteren Zeilen. Ich habe vorhin Textstellen in einer Erzählung gesucht, an die ich neulich denken musste und sie auch gefunden. Wohl gesetzt und leider treffend.
Nach einer kleinen Pause deklamiert es, leise aber eindringlich:
-Wenn wir geglaubt hatten, der Schrecken könne sich nicht mehr steigern, so mußten wir jetzt einsehn, daß es für die Greuel, die Menschen einander antun, keine Grenzen gibt; daß wir imstande sind, die Eingeweide des andern zu durchwühlen, seine Hirnschale zu knacken, auf der Suche nach dem Gipfelpunkt der Pein. ‚Wir‘ sag ich, und von allen Wir, zu denen ich gelangte, ist es dasjenige, das mich am meisten anficht.
Zebras Blick ist leer. Einige Sekunden scheint es zu erwarten, dass der Text weitergeht. Da nichts kommt, hebt es fragend den Kopf. -Kassandra? Und? Was nun?
-Beim Suchen in der Bibliothek hab ich vorhin auch dieses Buch gefunden. Ein zufälliger Fund sozusagen. Als wenn es das gäbe.
Es reicht Zebra das Buch. Zebra schlägt es auf, dank Lesebändchen, das wie ein Goldfaden zwischen den Seiten liegt.
Noch bist du da
Wirf deine Angst in die Luft
Bald ist deine Zeit um bald wächst der Himmel unter dem Gras fallen deine Träume ins Nirgends
Noch duftet die Nelke singt die Drossel noch darfst du lieben Worte verschenken noch bist du da
Sei was du bist Gib was du hast
Rose Ausländer
Gedicht entstanden nach 1975;
zitiert aus: Rose Ausländer: Gesammelte Werke Bd. V: Ich höre das Herz des Oleanders, S. Fischer Verlag, 1995
Zitat aus Christa Wolf: Kassandra. Luchterhand, 1993
© MishuHanda/Pixabay
We’re here, still
Okapi is reading, deeply absorbed in a colorful linen-bound book. Zebra approaches curiously. -What's new? What are you reading?
Okapi, emerging from the text with a disordered blink, lowers the book and slowly folds it closed. Not without putting the shiny ribbon between the pages first.
-I actually read something extraordinary, and also really beautiful, after horrifically somber lines. Earlier I was looking for passages in a story I was thinking about the other day, and I found them. Well-set and unfortunately apt.
After a little pause, it declaims in an ominous voice:
-If we had thought that horror could no longer escalate, we now had to realize that there’s no limit to atrocities that people are inflicting on each other; that we find ourselves capable of savaging the other's guts, cracking his brains, searching for ultimate torment. I say 'we', and of all the 'we’s' I've come to, it's this one that’s tormenting me the most.
Zebra's gaze is blank. For a few seconds, it seems to expect the text to continue. Since nothing comes, it raises its head questioningly. -Cassandra? And? What now?
-While searching in the library earlier, I also found this book. A chance find, so to speak. As if there were such a thing.
It hands the book to Zebra. Zebra opens it, thanks to the ribbon that lies between the pages like a golden thread.
You’re here, still
Throw your fear
into the air
Soon
your time is over
soon
heaven grows
under the grass
your dreams fall
into nowhere
Still
the carnation smells sweetly
the thrush sings
still you may love
give words away
you are here, still
Be what you are
Give what you have
Rose Ausländer,
translated by Julia K. Stein
Quote from Christa Wolf: Kassandra. Luchterhand, 1993. My translation.
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