Philosophiestunde
- Aurelia Pangolini

- 10. Okt.
- 11 Min. Lesezeit

Sucht ihr euer Essen nach der Bezeichnung aus? Ich nicht. Wenn diverse Formen wie “Wurst” oder “Burger” nur für Fleischprodukte verwendet werden dürfen - sei’s drum. Anläßlich der unglaublichen Debatte über Bezeichnungen von Pflanzenprodukten im Europäischen Parlament möchte ich heute einmal auf die inneren Vorgänge verweisen, die zum Thema gehören. Abgesehen davon, dass es eine unglaubliche Geld- und Zeitverschwendung ist, dazu Sitzungen abzuhalten, nur um ewiggestrige Lobbyisten zu befrieden, wird hier wieder einmal unkenntlich, um was es eigentlich geht.
Es geht darum, dass es als normal gelten soll, täglich unzählige Tiere zu töten, um sie zu essen. Bzw. sie Handlungen zu unterwerfen, die ihnen “Produkte” abringen, die Menschen für ihre Nahrung - und alles mögliche andere - verwenden.
Man darf sich das ein paar Momente vor Augen führen.
Dann nimmt man einen “Vogelblick” ein, wie meine Freundin neulich sagte.
Und man kann sich fragen, was an diesem Verhalten kultiviert sein soll.
Ich gehe aber heute noch einen Schritt weiter und rufe die derzeit äußerst unbeliebte Kategorie “Ethik” oder, noch schlimmer, “Moral” auf. Man möge mir dies verzeihen, schließlich ist mein Hintergrund Philosophie. Also los!
Jeden Tag kommen wir an einen Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen, wie wir handeln wollen. Auch wenn es um kleine Entscheidungen geht, brauchen wir einen inneren Kompass für das eigene Leben. Manche sprechen dann über “ethische Prinzipien“. Horribile dictu! Egal, wie man es nennt - es geht darum, dass wir über die eigene Nasenspitze hinauszublicken und unsere Handlungen im Kontext einer größeren Verantwortung und Gemeinschaft sehen. Diesen Anspruch an uns selbst zu stellen eröffnet einen größeren Zusammenhang, in dem jede und jeder steht.Moral gilt heute oft als ein veraltetes Konzept, das in einer Gesellschaft, die den ungebremsten Ausdruck individueller Freiheit fördert, nichts zu suchen hat.
Moralische oder ethische Überlegungen werden als Einschränkung und Bevormundung missverstanden. Während egoistische und oft kindlich wirkende Impulse als legitimer Ausdruck der freien Meinungsäußerung gelten, verlieren wahre Kommunikation und damit auch Verbindlichkeit an Bedeutung. Ohne Verbindlichkeit wird die Zuverlässigkeit des Gesagten aber zunehmend fraglich – was gestern noch als wichtig verkündet wurde, ist heute schon wieder vergessen. Dies lässt sich sowohl in der Politik beobachten, als auch im privaten Bereich, der die politischen Verhältnisse immer widerspiegelt.
Man gewinnt manchmal den Eindruck, als würden immer mehr Menschen versuchen, sich von Verantwortung zu distanzieren.Wir können uns der Wirkung unseres eigenen Handelns aber nicht entziehen – auch wenn viele das gerne möchten. Sie sagen dann, dass sie als Einzelperson ohnehin keinen Einfluss haben. Das stimmt natürlich nicht, denn Wirkung entsteht durch die Summe vieler kleiner Details.
Außerdem bleibt Verantwortung trotzdem bestehen. Sie ist nicht optional. Wie wir mit anderen Lebewesen umgehen, ist unsere Verantwortung. Darauf hinzuweisen, stößt oft auf Widerstand und sogar Aggression – als ob manche in ihrer „Blase“ der Verantwortungslosigkeit bleiben wollen. Denn mit der Reflexion kommt auch das Thema Schuld in die Debatte.Aktivist*innen betonen oft, das Erzeugen von Schuldgefühlen sei nicht produktiv. Die Ausklammerung der Schuldfrage jedoch verhindert jede Auseinandersetzung mit moralischem Bewusstsein. Denn Schuld und Scham können als aktivierende Kräfte wirken, die uns dazu anregen, unser Verhalten zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen. Und sie sind durchaus zumutbar, da sie uns helfen, ein tieferes moralisches Bewusstsein zu entwickeln.Besonders im Zusammenhang mit Tieren wird eine Diskussion über Schuld und Scham häufig ausgeblendet. Wenn es um die Frage geht, ob wir Tiere essen, einsperren oder misshandeln dürfen, wird diese Debatte oft mit der Aussage vom Tisch gewischt, es handele sich um eine subjektive Entscheidung. Doch diese Einstellung blendet die Verantwortung aus, die wir als Menschen gegenüber den Tieren tragen. Wir können nicht einfach behaupten, dass es eine persönliche Wahl ist, Tiere so zu behandeln, wie wir es für richtig halten, ohne dabei die tiefere moralische Frage zu stellen: Ist es gerechtfertigt, einem fühlenden Wesen unnötiges Leid zuzufügen, nur um eigene Bedürfnisse zu befriedigen?
Diese Verantwortung und die damit verbundene Schuldfrage werden häufig ausgeklammert, als ob die Behandlung von Tieren ohne ethische Konsequenzen möglich wäre. Ein grundlegender Bestandteil des Erwachsenseins ist es, Verantwortung zu tragen, die Auswirkungen unseres Handelns zu erkennen und dafür einzustehen. Das Wegwischen von Verantwortung im Kontext des Tierkonsums – die Vorstellung, dass der Verzehr von Tieren eine rein persönliche Entscheidung sei – ähnelt dem geistigen Entwicklungsstand eines Kleinkindes. Ein Kleinkind ist sich der Auswirkungen seines Handelns noch nicht bewusst und versteht nicht, wie sein Verhalten andere beeinflusst. Wenn Erwachsene also Verantwortung ablehnen und sich nicht mit den Konsequenzen ihres Konsums auseinandersetzen, verhalten sie sich ähnlich wie ein Kind, das die Verantwortung für seine Taten nicht erkennt oder akzeptiert.
Wie erwähnt, gilt Moral in solchen Diskussionen oft als „altmodisch“, als sei es nicht mehr zeitgemäß, ethische Fragen zu stellen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Doch diese Haltung verkennt, dass Moral nichts von ihrer Relevanz verloren hat – gerade in einer Zeit, in der wir uns zunehmend mit den Folgen unseres Handelns auf die Umwelt und andere Lebewesen auseinandersetzen müssen. Es stimmt, Moral ist anspruchsvoll und adressiert uns als mündige Wesen. Sie fordert uns dazu auf, bewußt zu handeln. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass unser Handeln anderen schadet, ist es angesagt, Verantwortung zu übernehmen, das Verhalten zu ändern oder die Schäden wiedergutzumachen. Moralische Verantwortung geht über den eigenen Vorteil hinaus und berücksichtigt die Auswirkungen auf andere.
Ein wenig mehr Weitblick ist hier gefragt. In einem philosophischen Verständnis werden Schuld und Scham seit jeher als wichtige moralische Kräfte gesehen, die Veränderungen anregen können. Sie motivieren dazu, das eigene Verhalten zu ändern und Schaden wieder gutzumachen.
Die finnische Philosophin Elisa Aaltola unterscheidet zwischen Schuld, die sich auf individuelle Handlungen bezieht und intern verarbeitet wird, und Scham, die vor allem durch die Wahrnehmung und Beurteilung durch andere geprägt ist. Aaltola schreibt: „Während Schuld die Kraft hat, eine bestimmte Überzeugung, einen Wert oder ein Verhalten zu verändern, kann Scham tiefere, systemische Veränderungen in den gesamten Glaubenssystemen, Werten und Handlungen bewirken.“ Scham setzt dort an, wo wir uns selbst sehen und mit unseren inneren Werten in Einklang leben wollen. Die Philosophin regt uns zu Fragen an wie: „Warum definiere ich mich auf diese Weise? Wie beeinflusst das mein Verhalten gegenüber anderen? Wie könnte ich mich anders definieren, um respektvoller mit anderen Lebewesen und der Natur umzugehen?“
Echte Selbstbestimmung entsteht nur, wenn wir unsere eigenen Werte verstehen und sie mit unserem Handeln abgleichen. Dabei wird eine weitere Dimension deutlich: die Frage, woher diese Werte kommen. Sind sie lediglich gesellschaftliche Normen, die wir übernommen haben? Oder gibt es eine eigenständige Reflexion darüber, nach welchen Überzeugungen wir leben möchten? Reicht es wirklich, sich auf irgendeine (meist ohnehin fiktive!) Tradition zu berufen? Selbstreflexion und das Bewusstsein für die eigenen Emotionen sind grundlegende Voraussetzungen, um Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen zu können.
Weil wir ständig von Medienbotschaften und konsumorientierten Idealen beeinflusst werden, müssen wir uns erst einmal von diesen Einflüsterungen befreien. Wir müssen in der Lage sein, unsere eigenen Gefühle und Werte zu erkennen, um Entscheidungen bewusst und verantwortungsvoll treffen zu können. Das erfordert Wachsamkeit und die Erkenntnis, dass es notwendig ist, diese Einflüsse zu hinterfragen.
Eine hilfreiche Frage könnte sein: Wer erzählt uns was, für wen und warum? Wem dienen die Narrative von Erfolg, die in westlichen Gesellschaften propagiert werden? Was hat „Erfolg“ mit unseren eigenen Vorstellungen von einem erfüllten Leben zu tun? Erfolg wird oft als etwas Äußeres dargestellt – sichtbare materielle Güter oder finanzielle Macht. Erfüllung hingegen ist eine innere Qualität, die nur spürbar wird, wenn wir mit unserem inneren Selbst im Einklang leben.
Schuld und Scham begleiten die philosophische Diskussion schon seit jeher – von Platon über Immanuel Kant zu Friedrich Nietzsche, zu Martha Nussbaum und Elisa Aaltola. Sie spielen auch in der persönlichen Entwicklung eine Rolle, da sie uns Leitlinien geben. Wie verhalte ich mich so, dass ich zu meinen Handlungen stehen kann und die Konsequenzen akzeptiere? Möchte ich wirklich, dass ein Tier sein Leben verliert, nur weil ich einen Teil seines Körpers essen möchte? Möchte ich Verantwortung dafür übernehmen, dass Tiere unter Bedingungen leben, die keinerlei Bezug zu irgendeiner Art von „Lebensqualität“ haben?
Diese Fragen können unangenehme Gefühle hervorrufen. Als Gegenmittel zu den Versuchen der Werbemaschinerie, die Wahrheit zu zensieren und zu behübschen, können wir uns an Ingeborg Bachmann erinnern. Sie schrieb: „Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.“ Selbstreflexion ohne Verzerrung ist entscheidend, um ehrlich zu uns selbst und der Welt gegenüber zu sein.
Thinking Out Loud
Do you choose your food based on its name? I don't. If various terms such as ‘sausage’ or ‘burger’ can only be used for meat products, so be it. In light of the ridiculous debate on the labelling of plant-based products in the European Parliament, I would like to draw attention to the underlying issues surrounding this topic. Apart from the fact that it is an incredible waste of money and time to hold meetings just to appease die-hard lobbyists, the real issue is once again being obscured.
The issue is that it should be considered normal to kill countless animals every day in order to eat them. Or rather, to subject them to actions that extract ‘products’ from them, which humans use for food – and all sorts of other things.
Let's take a moment to think about that.
Then take a ‘bird's eye view’, as my friend said recently.
And you can ask yourself what is supposed to be civilised about this behaviour.
But today I'm going to go one step further and bring up the currently extremely unpopular category of ‘ethics’ or, even worse, ‘morals’. Please forgive me for this, after all, my background is in philosophy. So here we go!
Every day, we are faced with decisions about how we want to act. Even when it comes to small decisions, we need an inner compass for our own lives. Some people refer to this as ‘ethical principles’. Horribile dictu! No matter what you call it, it's about looking beyond the end of our own noses and seeing our actions in the context of a greater responsibility and community. Setting this standard for ourselves opens up a larger world in which each and every one of us stands.
Today, morality is often considered an outdated concept that has no place in a society that promotes the unbridled expression of individual freedom. Moral or ethical considerations are misunderstood as restrictions and paternalism. While selfish and often childish impulses are considered a legitimate expression of free speech, true communication and thus commitment are losing their importance.
Without commitment, however, the reliability of what is said becomes increasingly questionable – what was proclaimed as important yesterday is already forgotten today. This can be observed both in politics and in the private sphere, which always reflects political conditions. One sometimes gets the impression that more and more people are trying to distance themselves from responsibility.
However, we cannot escape the consequences of our own actions – even if many would like to. They say that as individuals, they have no influence anyway. Of course, this is not true, because impact is created by the sum of many small details.
Furthermore, responsibility still remains. It is not optional. How we treat other living beings is our responsibility. Pointing this out often meets with resistance and even aggression – as if some people want to remain in their ‘bubble’ of irresponsibility. Because with reflection comes the issue of guilt.
Activists often emphasize that creating feelings of guilt is not productive. However, excluding the question of guilt prevents any discussion of moral consciousness. Guilt and shame can act as motivating forces that encourage us to question our behaviour and take responsibility. And they are entirely reasonable, as they help us to develop a deeper moral consciousness.
Especially when it comes to animals, discussions about guilt and shame are often ignored. When it comes to the question of whether we are allowed to eat, imprison or mistreat animals, this debate is often dismissed with the statement that it is a subjective decision. But this attitude ignores the responsibility we have as humans towards animals. We cannot simply claim that it is a personal choice to treat animals as we see fit without asking the deeper moral question: is it justified to cause unnecessary suffering to a sentient being just to satisfy our own whims?
This responsibility and the associated question of guilt are often ignored, as if it were possible to treat animals without ethical consequences. A fundamental part of adulthood is taking responsibility, recognising the effects of our actions and standing up for them. Brushing aside responsibility in the context of animal consumption – the idea that eating animals is a purely personal decision – is similar to the mental development of a toddler. A toddler is not yet aware of the consequences of their actions and does not understand how their behaviour affects others. So when adults reject responsibility and refuse to face the consequences of their consumption, they are behaving much like a child who does not recognise or accept responsibility for their actions.
As mentioned, morality is often considered ‘old-fashioned’ in such discussions, as if it were no longer appropriate to ask ethical questions and take responsibility for one's own actions. However, this attitude fails to recognise that morality has lost none of its relevance – especially at a time when we are increasingly having to deal with the consequences of our actions on the environment and other living beings.
It is true that morality is demanding and addresses us as responsible beings. It requires us to act consciously. For example, if we know that our actions are harming others, it is incumbent upon us to take responsibility, change our behaviour or make amends for the damage. Moral responsibility goes beyond our own advantage and takes into account the impact on others.
A little more foresight is needed here. In philosophical terms, guilt and shame have always been seen as important moral forces that can inspire change. They motivate people to change their behaviour and make amends for any harm they have caused. Finnish philosopher Elisa Aaltola distinguishes between guilt, which relates to individual actions and is processed internally, and shame, which is primarily shaped by the perceptions and judgements of others.
Aaltola writes: ‘While guilt has the power to change a particular belief, value or behaviour, shame can bring about deeper, systemic changes in entire belief systems, values and actions.’ Shame comes into play when we want to see ourselves and live in harmony with our inner values. The philosopher encourages us to ask questions such as: ‘Why do I define myself in this way? How does this influence my behaviour towards others? How could I define myself differently in order to treat other living beings and nature with more respect?’
True self-determination only arises when we understand our own values and align them with our actions. This brings another dimension into focus: the question of where these values come from. Are they merely social norms that we have adopted? Or is there an independent reflection on the convictions we want to live by? Is it really enough to refer to some (mostly fictitious!) tradition?
Self-reflection and awareness of our own emotions are fundamental prerequisites for taking responsibility for our own actions. Because we are constantly influenced by media messages and consumer-oriented ideals, we must first free ourselves from these influences. We must be able to recognise our own feelings and values in order to make conscious and responsible decisions. This requires vigilance and the realisation that it is necessary to question these influences.
A helpful question might be: Who is telling us what, for whom and why? Who benefits from the narratives of success propagated in Western societies? What does ‘success’ have to do with our own ideas of a fulfilled life? Success is often portrayed as something external – visible material goods or financial power. Fulfilment, on the other hand, is an inner quality that can only be felt when we live in harmony with our inner selves.
Guilt and shame have always been part of philosophical discussion – from Plato to Immanuel Kant to Friedrich Nietzsche, Martha Nussbaum and Elisa Aaltola. They also play a role in personal development, as they provide us with guidelines. How do I behave in such a way that I can stand by my actions and accept the consequences? Do I really want an animal to lose its life just because I want to eat part of its body? Do I want to take responsibility for animals living in conditions that have no relation to any kind of ‘quality of life’?
These questions can evoke unpleasant feelings. As an antidote to the advertising machine's attempts to censor and embellish the truth, we can remember Ingeborg Bachmann. She wrote: ‘The truth is that the truth is bearable.’ Self-reflection without distortion is crucial to being honest with ourselves and the world.





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